Prüfungsvorbereitung zum 1. TG Wing Tsun
Schriftliche Arbeit zum Thema „Kampfkunst-Lebenslauf“ von ………
( IUEWT- Schule Düsseldorf)
Das Wort „Kampfkunst“ war für mich beim Frühbeginn meiner Lebensgeschichte ein extraordinärer Klang, bedeutete gleichzeitig etwas Exklusives, das sich irgendwo hinter den Kulissen meiner kleinen Welt abspielte , wie z.B. ein Flug zum Mars. Die Begriffe „das Kämpfen“ und „das Ringen“ gehörten zu meinem passiven Vokabular, wie beispielsweise „Protuberanz“ und „Eruption“, die man zu einem bestimmten lexikalischen Themenbereich einordnen konnte. Und das war aber schon dem Allgemeinwissen genüge getan. Ansonsten sollten „Kämpfe“ und die damit verbundenen Sportarten durchweg festgeschriebene Beschäftigungen für Männer sein. In meiner kindlicher Assoziation mit „Kampfkunst“ sollten die alabasterfarbenen olympischen Athleten einander wild auf den steinharten Arenaboden schleudern. Bei jedem Zusammenprall stießen sie die Schleierwolken von Gipsstaub ab, die in dichten Nebelschwaden zusammen mit penetranten Körperausdünstungen emporstiegen. Die mit Weinbechern ausgestatteten brüllenden Zuschauer, meist mit zahnlosen Mündern, aus denen Inhaltsteile großzügig in alle Himmelsrichtungen schossen, mussten nur erahnen, wer in der unten wälzenden Masse von verhedderten halbnackten Körpern dominierte oder verlor. Gemischte Konnotationen von furiosen Kräftemessen mit Schweiß und dumpfen Schlägen füllten also meinen Begriff „Kampfkunst“. Das angehängte Wort „- kunst“ sollte in meiner damaligen Folgerung lediglich eine ästhetisierende Wirkung auf Semantik des ganzes Wortes haben, um den Effekt von negativ geladener Urbedeutung rabiater Beschäftigung abzumildern. Ich kannte auch keine einzige Frau in meinem Umfeld, die eine Kampfkunstart, Fechten oder wenigstens Boxen betrieben hätte. Gewiss lebte ich nicht abgesondert auf einer Insel und mir wurde das Bild einer modernen „Power Women“ übermittelt, die Alles anzupacken vermag, was sie nur in die Hände bekommen kann. Nichteinbezogenheit der Frauen in bestimmte Lebensbereiche wurde von ihnen seit Jahrzehnten dermaßen als Selbstverständlichkeit hingenommen, dass sie für moderne soziale Rollen mit einhergehenden Tätigkeiten schlicht nicht offen waren. Es wäre falsch zu behaupten, die Mädchen hätten Angst vor neuen Sportarten. Das war in unserer Gemeinschaft so nicht üblich, und das Interesse war auch nicht vorhanden. Aus diesen Gründen, obwohl der Sport ein durchaus integraler Bestandteil meiner Lebensweise war, lagen mir eher Beschäftigungen wie Tanzen und Singen am Herzen wie den meisten Mädchen in unserer kleinen kasachischen Stadt. In unserer Schule wurde Sport groß geschrieben. Und wir mussten zwangsläufig an vielen Wettbewerben unterschiedlicher Aktivitäten für Kinder teilnehmen( wie z.B. Schilaufen, Leichtathletik, Turnen usw.) Des Guten hat es eindeutig zu viel gegeben, da ich bis jetzt eine starke Ablehnung gegen einige sportliche Aktivitäten aus dieser Zeit, insbesondere gegen Schilaufen empfinde. Und mit dem Gedanken zu spielen, auch noch eine Kampfkunstart zu betreiben wäre für mich damals minder ausgedruckt abwegig gewesen. Doch genauso wie ein stets laufender und sich windender Fluss, der neugierig immer wieder in neue Landschaftsgebiete abzweigt, findet auch jedes Individuum auf seinem Lebensweg Entwicklungs- und Ergänzungsmöglichkeiten um seine vielfältigen Persönlichkeitsfacetten zum Blühen zu bringen. Dabei trifft der Mensch überraschende Entscheidungen und schlägt unerwartet seine Pfade in völlig unvorstellbare Richtungen ein.
Die Auflösung der Sowjetunion ereignete sich zu der Zeit meines Studiums an der pädagogischen Hochschule, denn ich hatte es vor, zukünftig als Lehrerin zu fungieren. Neue Freiheit jener Umbruchszeit stürmte auf uns wie eine feurige Lava ein. Sie überschwemmte mit neuen vielversprechenden brennenden Möglichkeiten aus der weiten Welt, die sich später für viele als Fata Morgana besseres Lebens entpuppten, um dann die ohnehin schwere Last der Enttäuschungen mit neuen frisch abgekühlten grauschwarzen Lavasteinen der Desillusionen zu füllen. Analog zu kleinen Kindern, die sehr lange hinter Schutzgittern gespielt hatten und plötzlich freigelassen wurden, jagten neugierige Zeitgenossen stolpernd und wahllos nach neuen Chancen auf den Markt in andere Städte, Länder oder Kontinente. Wie verstrahlte Wildpilze schossen währenddessen auch neue privatisierte Fernsehkanäle mit Fluten von ausländischen Filmen aus dem zuvor lang unbebauten Ackerboden örtlicher Unterhaltungsindustrie. Breit bekannte Aktionsfilme mit Jean Clode van Damme, Dolf Lungren, Bruce Le imponierten mit ihren tollen dynamischen Kampfszenen sowie sympathischen Darstellern, die sehr geschwind in all ihrer Pracht Zimmerwände von zahlreichen Fans schmückten und füllten. Rasch wurde auch Information über unterschiedliche Kampfstile bekannt. Wenn man früher in unseren Kreisen nur gewissermaßen mit SAMBO, Judo oder Karate vertraut war, konnte praktisch jeder von gleich auf jetzt „Taekwondo“ von „Kung Fu“ unterscheiden oder war ein gestandener Koryphäe auf dem lexikalischen Gebiet vom Thai-boxen.
Wie großartig auch ich die Filmkampfszenen fand, hatte ich immer noch nicht wirklich daran gedacht, selbst irgendeinen Bezug zu dieser Betätigung zu entwickeln. Die öffentlich rechtlichen Fernsehangebote gestatteten auch Einblicke über den Tellerrand und lieferten virtuelle Reisen in weit abgelegene Weltecken mit exotischen Kulturtraditionen. Bis jetzt erinnere ich mich sehr genau an eine Reportage über Shaolin Mönche. Die betagten Klosterbewohner vollführten gemächlich Körperdrehungen auf den Fußsäulen begleitend mit geschmeidigen Armbewegungen. Der Reporter erklärte, ein oder anderer Zuschauer könnte meinen, die Greise rotierten passiv auf ihren Halb-Beugungen. In Wirklichkeit drücken sie bei jeder Kniebeuge ihre Füße bis zu einigen Zentimetern tief in den Boden. Trotz der schon damals bestehender Skepsis gegenüber den Fernsehinhalten war ich extremst von solcher ungewöhnlicher Art der Meditation beeindruckt. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, dass mein erlangtes körperliches Können zwar gut und gesund für das Allgemeinbefinden und Kondition war, fehlte ihm aber eine Fortsetzung zur gewissen Vollendung, zur Freisetzung meiner gespeicherten Energie oder zu einer Art Manifestation vom Körperwesen. Meine zuvor gemachten Fitnessübungen kamen mir schlagartig wie Weichenstellungen ohne Plan vor: worauf richtete ich mich die ganze Zeit aus? Als hätte ich ein Projekt angefangen und es nicht zur Realisierung gebracht. Und dieses nicht leicht zu beschreibendes Empfinden fehlender Sinnhaftigkeit oder einer Richtung von gelernten Körperbewegungen hatte ich nach der o.g. Reportage sehr deutlich gespürt. Außerdem fiel mir damals ein, dass der Sinn der Körperfitness nicht nur darin besteht, eigenen Körper und Geist zu kontrollieren, sondern auch die Fähigkeit zu entwickeln, die Energie seines Umfeldes zu verspüren, sich dem Einklang mit der Natur anzuschließen, sich in ihr aufzulösen und genauso wie sie eine ruhige unanfechtbare Überlegenheit auszustrahlen. Aber auch dann hielt ich meine persönliche Beobachtung zwar interessant, leider nicht weiterhin verwendbar: die Kampfkunst blieb für mich nach wie vor eine schöne Sache aus einer andern Welt.
Mein erworbener Beruf konnte ein paar Jahre nach dem Studienabschluss der sich rasch ändernder Nachfrage unserer Gemeinschaft nicht mehr ausreichend entsprechen. Dieser Sachverhalt führte mich nach Deutschland, wo ich gegenwärtig und bereits seit geraumer Zeit lebe. Als ich hier durch einen Zufall über einen Probeunterricht in Wing Tsun hörte, erinnerte ich mich daran, dass meiner Fitness ein gewisses Effektuieren fehlte und fühlte mich bereit, das Kung Fu, diesen mit Legenden umwobenen Stier endlich bei den Hörnern zu packen. Nachdem ich die Philosophie von Wing Tsun kennenlernte, fühlte ich mich in meinen früheren Ansätzen in Bezug auf Verbundenheit von Mensch und Natur bestätigt und am richtigen Hafen angekommen zu sein. Z. B.besagt das 1. Kraftprinzip von WT: „ mach dich frei von deiner Kraft“. Das entsprach meiner Vorstellung, dass man sich von Ego – Trieben bereifen und auf eine Diffusion mit der Umgebung eingehen sollte. Alle gut funktionierenden Organe im Menschenkörper ergeben in ihrem harmonischen Zusammenspiel eine komplexe Einheit, die auf sämtliche Eindringlinge und unerwünschte Unregelmäßigkeiten rasch mit Abwehrkräften ihres Immunsystems reagiert. Jeder Biotop ist im Grunde das gleiche System, wo der Mensch als sein sensorisch eingerichteter Bestandteil nicht nur die Temperatursenkungen oder Windböen, sondern vielleicht auch die auf ihn gerichteten kleinsten Schwingungen anderer Akteure gegebenen Lebensraums wahrnehmen könnte, sollte er die Fähigkeit des Ego-Lassens erlangen. Ein WT- Praktizierender kann demnach durch zumindest eine vorübergehende Deaktivierung seiner selbst-repräsentativen Triebe die kleinsten Veränderungen und Impulse sowohl seines Übungspartners als auch des gegebenen Umfelds besser wahrnehmen und schneller auf diese reagieren. Die Voraussetzung für eine gute Qualität seiner Reaktionen sind natürlich regelmäßige körperliche Übungen mit oder ohne Übungspartner*in.
Beim Einüben der WT- Techniken lerne ich somit nicht nur die Kunst, meine Kraftreserven technisch so zum Ausdruck zu bringen, dass mein Körper bei Notwendigkeit zum Kampfgerät werden kann. Ich verbessere außerdem meine Feinfühligkeit und Empfindungsfähigkeit gegenüber den anderen. Und das tue ich seit sieben Jahren in der Düsseldorfer WT-Schule bei Sifu Bernhard Gaida unter der Leitung von Dai- Sifu Johannes Olbers.