(Erfahrungsvergleich eines Anfängers zwischen Aikido und Wing Tsun - von Tanja S.)

Vor wenigen Jahren lernte ich durch einen zufälligen Kontakt einen Aikido-Lehrer kennen, der ehrenamtlich Mädchen mit hohem Aggressionspotenzial trainiert. Ein solches Problem hatte ich glücklicherweise nicht, dafür jedoch mit starken Ängsten und Stimmungsschwankungen zu kämpfen. Aikido sollte mir helfen, die Dämonen aus meiner Vergangenheit zu vertreiben, versprach mir der Trainer und so willigte ich ein, ein Probetraining bei ihm zu absolvieren.

Da ich seit meiner Kindheit an Muskelschwäche leide und an den Sportunterricht der Schule nur mit Grauen zurückblicke, überkam mich zunächst ein eiskalter Schauer, als mir am Trainingstag klar wurde, dass ich in einer Sporthalle unterrichtet werde. Mit einem mulmigen Gefühl ahmte ich die Atemübungen nach, mit denen wir das Aikido Training in einer überschaubaren kleinen Frauengruppe begannen. Obgleich der Trainer eine kurze Erklärung zu den Atemtechniken gab, schweifte mein Geist immer wieder ab. Zu sehr war ich mir der Sporthalle bewusst und alte Erinnerungen drängten sich gegen meinen Willen in meine Gedanken. Ich wurde unruhiger, fühlte mich beobachtet und unwohl. Das Gefühl sollte sich steigern, als wir zu der ersten Übung kamen: Ballspiele. Wenn ich eines hasste, dann das. Wofür brauchte ich überhaupt Ballspiele, um Selbstverteidigung zu lernen? Einen Sinn hierfür gab es sicherlich, doch geistig war ich völlig woanders. Zweifelte. Und die Turnhalle mit all ihren Geschichten wollte einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden.

Nur widerwillig wehrte ich den großen Gummiball per Faustschlag ab, den mir die anderen Schüler entgegen preschten. Körperlich kam ich an meine Grenzen. Ich konnte den Ball nicht so fest schlagen, schwitze vor Panik, wenn er in meine Richtung rollte und fühlte mich unterlegen und schwach. Eine konstante Konzentration war kaum möglich. In Gedanken verfluchte ich mich selbst, warum ich diesem Training überhaupt eingewilligt hatte.

Nach den ersten Aufwärmspielen erklärte mir der Trainer die Grundhaltung von Aikido. Ich sollte die Holzmesser meiner Trainingspartnerin abwehren, mit denen sie mich simulierend angriff. Ich folgte den Anweisungen und während ich die Holzklingen mit einem flachen Handschlag in eine andere Richtung lenkte, wühlte mein Kopf schon wieder in alten Erinnerungsschubladen, kramte diese und jene Situation hervor und ließ mich mit einem Gefühl aus Selbstzweifel und Angst zurück.

Auch während der letzten Übung sollte sich diese negative Energie noch einmal entladen. In gebückter Haltung und permanenter Bewegung sollte ich die Waden meiner Trainingskollegin zu fassen bekommen und gleichzeitig ihren Griffen ausweichen. Eine Art Fang- und Abwehrspiel. Ausweichen war nur durch einen schnellen Rückzug erlaubt, nicht per Handabwehr. Wieder einmal war ich die Langsamste und Schwächste. Außerdem fiel mir der Körperkontakt zu fremden Personen ohnehin schon schwer genug, weshalb mich meine Hemmungen noch zusätzlich bremsten. Ich war heilfroh, als ich die Sporthalle endlich verlassen durfte. Es sollte mein erstes und letztes Aikido-Training bleiben. Obwohl der Trainer und die Gruppe mich sehr warmherzig aufgenommen hatten und mir niemand das Gefühl vermittelt hatte, ich hätte versagt, hatte die Angst in meinem Kopf wieder einmal gesiegt.

Weshalb ich nach solch einer Erfahrung einem Probetraining für IUEWT - Wing Tsun einwilligte, liegt vor allem in der weisen Philosophie dieser Kampfkunst.

„Erst wenn du aufhörst mit Wing Tsun kämpfen zu wollen, machst du richtiges Wing Tsun.“ (Leung Ting, China)

„Wing Tsun ist wie ein Fluss, der ins Meer fließt. Kommen ihm Felsen oder Berge in die Quere, lässt er sich nicht aufhalten. Allen Hindernissen zum Trotz erreicht er sein Ziel – das Meer.“ (Bruce Lee)
Von außen betrachtet wirkte Wing Tsun reifer auf mich, ausgeglichener und auch ruhiger. Vielleicht ist das nur die Einschätzung eines Laien, aber ich bewunderte die zielgerichtete Härte dieser Kampfkunst und die zeitgleiche Gelassenheit der Kämpfer. Ich spürte keine Verbissenheit, Aggression und auch kein Machtdemonstrations-gehabe. Im Gegenteil, die WT‘ler schienen genau zu wissen, was sie tun und vor allem wie sie es zu tun hatten. Sicherheit. Das war im Grunde alles, was ich mir wünschte. Keine akrobatischen Bewegungen wie im Film, um anzugeben und auch nicht die Gewissheit, jemanden nieder schlagen zu können, wenn ich wollte. Nein. Ich wollte mich im Notfall verteidigen können und dabei meine gewaltfreie Lebenseinstellung beibehalten. Mit anderen Worten: Einen Kampf umgehen.
„Ein Meister beherrscht die Kunst, einem Gegner seine aggressive Handlung zurück zu spiegeln, ohne sich dessen feindselige Absichten zu eigen zu machen, in Perfektion.“

Bei meinem ersten WT-Probetraining fühlte ich mich genauso willkommen wie beim Aikido. Jedoch spürte ich auch, dass der Trainer nicht nur meinen Respekt, sondern auch meine volle Aufmerksamkeit verlangte. Er begann mit der Theorie. Kein Vortrag, wie ich erwartet hatte. Mein Mitdenken war gefragt. Er stellte mir in regelmäßigen Abschnitten Fragen und ich war erstaunt, mit welcher Leichtigkeit ich sie nach ein wenig Überlegung beantworten konnte, obwohl ich mich mit der WT-Materie überhaupt nicht auskannte. Alles ergab einen Sinn und ich sog die Worte des Trainers auf wie ein Schwamm, denn ich verstand sofort, jedes Frage- und Antwortspiel sollte mich auf logischem Weg zu einem Ziel und Verständnis führen. Mein Geist war gefordert und konnte nicht abdriften. Für Ängste und abschweifende Gedanken war kein Platz.

Erst recht nicht, als ich die Grundhaltung einnahm und mit den Händen und Armen ein Dreieck bildete. Auf die Theorie folgte die Praxis, was in meinen Augen die sinnvollste Lehrmethode darstellt. Nun war mein Körper gefragt und sollte in Verbindung mit dem Kopf das Gelernte umsetzen.

Im ersten Moment war ich etwas erschrocken als die rücksichtslose Männerhand auf meine Abwehrhaltung traf, doch ich war so sehr damit beschäftigt meine Haltung aufrecht zu erhalten, dass mir keine Zeit blieb, länger über mögliche Schmerzen nachzudenken. Und es funktionierte tatsächlich! Trotz meiner Muskelschwäche, war ich in der Lage, die Schläge des Trainers abzuwehren. Dass mein Trainer mich innerhalb von Sekunden niederringen konnte, wenn er gewollt hätte, spielte hierbei keine Rolle. Für diesen Moment hatte ich es geschafft, den Angriffen standzuhalten und das war ein Erfolgserlebnis.

Schritt für Schritt wurden neue Bewegungen in die Grundhaltung eingebaut. Für die Umsetzung einiger brauchte ich ein wenig länger, doch dies weckte nicht wie gewohnt meine Zweifel, sondern meinen Ehrgeiz. Je mehr ich Geist und Körper in Einklang brachte, desto besser wurde das Ergebnis. Für einen Menschen, der wie ich unter Ängsten oder vergangenen Traumata leidet, ist dieses Gefühl wie eine Befreiung. Für diesen Augenblick entschied alleine ich, wie mein Körper agierte und meine Gedanken konzentrierten sich nur auf die Ausführung jener Bewegungen. Die Turnhalle mitsamt ihrer Erinnerungen löste sich in Luft auf. Ich fühlte mich sicher und wusste, je mehr ich über die Kunst des Wing Tsun lernte, desto mehr körperliche Sicherheit würde ich erlangen.

Als das Training vorbei war, fühlte ich mich so ermattet wie nach einem Fitnesstraining. Meine Sinne waren gestochen scharf, was neu für mich war und auch ermüdend. Jedoch fühlte ich mich auch glücklich und gestärkt, wie nach dem Muskelaufbautraining. Als hätte ich neu gelernt, wozu ich fähig war und noch fähig sein könnte. Anstelle der Angst war für diesen Moment die Sicherheit getreten, dass ich lernen konnte, mich realistisch zu verteidigen und nicht mehr hinnehmen oder einstecken zu müssen.

Persönlich gefällt mir besonders die Tatsache, dass man beim WT auf Gegebenheiten reagiert. Dass man durch das sogenannte Kleben (Kontakt halten) am Gegner Hemmungen und Ängste überwindet, über die zu sinnieren keine Zeit bleibt. Im Gegenteil, man lernt die bremsenden Zügel abzustreifen, wächst über sich hinaus und beginnt, sich mehr und mehr zu vertrauen und zuzutrauen.

Nach diesem Ersteindruck, wage ich zu behaupten, dass jeder Wing Tsun erlernen kann, egal ob Mann, Frau oder Kind und die Kampfkunst für jeden konzipiert ist, der eine intelligente, logische und unverschnörkelte Kampfart sucht, die Geist und Körper gleichermaßen fordert und fließend in Einklang bringt.

„Sei wie Wasser“, sagte Bruce Lee einst. Das beschreibt die Wing Tsun Kampfkunst in meinen Augen am besten, da Wasser auf Hindernisse reagiert, bei Kontakt ständig in Bewegung ist, bei Stillstand in sich ruht wie der See und eine einzige hereinbrechende Welle ausreichen kann, um eine Barriere niederzureißen.