Logisches und künstliches Nachgeben in der Kampfkunst – oder wann biegt sich die Weide.

Der Begriff des ‚Nachgebens‘ hat in der Kampfkunstwelt eine besondere Stellung. Er deutet an, dass auch ein körperlich unterlegener Mensch in der Lage ist, einen körperlich überlegeneren auf gleiche ‚Augenhöhe‘ zu stellen, bzw. die übermäßigen Kräfte des Angreifers einfach verpuffen lassen zu können. Diesem Begriff wird auch viel Mystik und Legendenbildung beigesteuert, was die Angstgefühle körperlich eher schwächer gebauter Menschen ungemein anspricht. Demnach gibt es Aussagen und Darstellungen die nicht nur gedanklich zu überlegen sind.

Nachgeben aus Tradition etc. sollte der Logik weichen, schon zum Selbstschutz.

Nachgeben basiert auf der Tatsache, dass eine körperliche Masse im Falle einer übergroßen Krafteinwirkung nur zwei Optionen zur Aufrechterhaltung ihrer Struktur hat: auf- bzw. zerbrechen oder nachgeben (Fachbegriff: plastische oder elastische Verformung.). Auf- bzw. zerbrechen bedeutet, dass man sich mit seiner Struktur der Kraft dem Widerstand entgegenstellt und nicht davon abweicht bis sich die Struktur zwangsweise auflöst. Nachgeben bedeutet, dass der der einwirkenden Kraft entgegengesetzte Widerstand dazu benutzt wird, auszuloten, inwieweit der Punkt gekommen ist, durch Verformung den Widerstand weiterhin trotz weiter steigender Krafteinwirkung auf gleichem Niveau halten zu können.

Der oben beschriebene rein formelle Sachverhalt beinhaltet zwei wesentliche Fakten:

  1. vor der Krafteinwirkung von außen muss eine in sich geschlossene Struktur vorhanden sein, um überhaupt Widerstand leisten zu können
  2. nachgeben bedeutet nicht die Aufgabe der Struktur, sondern eine ‚Ummodellierung‘ oder ‚Strukturverformung‘ unter der Voraussetzung der Aufrechterhaltung einer weiterhin in sich geschlossenen Struktur


Umgesetzt auf die Selbstverteidigung heißt dies, dass vor dem Erlernen des Nachgebens das Erlernen der eigenen in sich schlüssigen und stabilen Körperstruktur steht, um überhaupt Widerstand leisten zu können!

Die vom Körper am leichtesten und ohne eigenen übermäßigen Muskelkrafteinsatz schlüssige und stabile Struktur ist die so genannte ‚Keilstruktur‘. In den wissenschaftlichen Disziplinen ist diese Struktur die stabilste, denn äußere Kräfte werden – sofern die Keilspitze in die angreifende Kraftrichtung gestellt ist – aufgespalten und an den Flanken abgeleitet.

Die meisten Giebeldachformen im Norden Europas entsprechen dieser Struktur und sind ein Zeugnis dessen, dass Schnee und Regen keine Angriffsmöglichkeit haben. Dies funktioniert aber nur, weil die Keilstruktur in sich stabil gehalten wird! Die Keilstruktur also aufzugeben bedeutet, jeglichen Widerstand einem entgegenkommenden körperlichen Angriff einzustellen und sich somit in die Opferrolle zu begeben. Ob dieses aber dem eigentlichen Selbstzweck des Erlernens einer körperlichen Selbstverteidigung entspricht, mag ja Ansichtssache sein........es geht aber um Logik, um Funktionalität letztlich um Physik.

Wenn also die eigene Körperstruktur als Keilstruktur aufgebaut wird, so erhält man automatisch eine muskuläre Rückmeldung von Stabilität und Gleichgewicht. Durch diese körperliche Wahrnehmung (Körpergefühl) entspricht man auch seinem eigenen Reflexverhalten.

Durch richtige Anleitung kann ein Körpergefühl entwickelt werden, welches angepasst an die Situation vermittelt, wann der Zeitpunkt gekommen ist, die eigene Struktur zu verändern oder anzupassen. Diese Tatsache ist mit dem Begriff des ‚Körpertimings‘ gekoppelt.

Die Logik der obigen Ausführungen wird durch folgende absolut unumgängliche wissenschaftliche Tatsache untermauert: Kräfte und Energien sind visuell nicht erfassbar! In den Wissenschaften müssen Kräfte durch technische Umwege und Apparaturen für den Menschen sichtbar gemacht werden, wenn die Grundlage der visuellen Wahrnehmung vorausgesetzt wird.

Dies bedeutet für den Bereich der Selbstverteidigung ein massives Umdenken, wenn die Grundlage aller Handlungen und Techniken auf der visuellen Wahrnehmung oder Erkennbarkeit fußt. Da es keine technischen Apparaturen gibt, die im Bruchteil einer Sekunde eine genaue Aussage über die momentanen Umstände der Kräfte und Energien geben kann, kann man auch – unter der Voraussetzung der visuellen Wahrnehmung – keine Aussage darüber treffen, ob und gegebenenfalls wann einem Angriff nachgeben werden muss oder sollte.

Die logische Konsequenz aus dieser Tatsache ist, dass nur die körperliche Sensibilität eine genaue Rückmeldung dazu geben kann, ob die Gefahr besteht, die Stabilität und das Gleichgewicht zu verlieren.

Dies bedeutet für ein logisches und sinnvolles Nachgeben, dass zuerst die gesamte eigene körperliche Keilstruktur dem Angriff entgegengestellt werden muss, um somit den maximalen persönlichen Widerstand entgegenzustellen. Im Moment des Aufprallens des Angriffes mit dem eigenen Körper wird ein gewisses Energievolumen des Angriffs aufgelöst und dadurch entscheidet sich der weitere Verlauf: entweder wird die Angriffsenergie durch die Keilstruktur komplett aufgelöst oder die verbleibende überschüssige Restenergie zwingt die eigene Keilstruktur zur Verformung  ohne dass dabei gleichzeitig ein Strukturverlust eintritt bzw. die Balance verloren wird.

Hierbei sind zwei Größen von Bedeutung:
  1. die Präzision im Umgang mit der eigenen Keilstruktur
  2. die Präzision im Umgang mit der Struktur des Angreifers (möglicherweise auch keilförmig)


Wenn also ein Nachgeben trainiert wird, welches nicht der obigen Logik entspricht und von vornherein darauf abzielt, jedem erdenklichen Angriff sofort und immer in irgendeiner Art und Weise nachgeben zu wollen, dann unterlässt man es sträflich, dem Angriff überhaupt Widerstand entgegenzustellen und gibt damit die eigene Sicherheitszone auf. Dies fördert das Risiko! Diese Strategie basiert dann nicht mehr auf der durch die eigene solide körpereigene Keilstruktur erzwungene Notwendigkeit des Nachgebens. Einfacher ausgedrückt: anstatt der körpereigenen Keilstruktur die Entscheidung des Nachgebens zu überlassen, wird durch solch eine Lernstrategie versucht, dies in einer eher virtuellen, fast schon geplanten Feingefühlssteuerung umzusetzen. Dies ist gleichzusetzen mit dem Ausdruck des ‚künstlichem‘ Nachgebens.

Die Unmöglichkeit hierbei wird durch den zeitlichen Rahmen der Informationsverarbeitung belegt: wenn der Keil die Entscheidung für uns trifft, dann hat er die dazu notwendigen Informationen schon längst verarbeitet und auch gleichzeitig mit dem Gleichgewichtssinn via Reflexbogen eine Abstimmung zur Veränderung oder Nichtveränderung getroffen. Das Gehirn - wenn es der Lernstrategie des ‚künstlichen‘ Nachgebens folgt, muss zu viele Informationen verarbeiten, was bedeutet, dass man während dieser Verarbeitungszeit keine körperlichen Handlungen ausführen kann – auch keine bewusste Verformung.

Rein optisch wirkt das künstliche Nachgeben für einen Außenstehenden natürlich sofort wie eine Überlegenheit, da auch der Außenstehende nur visuell wahrnimmt und körperlich nicht im Einwirkungsbereich der aufeinandertreffenden Kräfte oder Energien involviert ist. Man kann dies vergleichen mit dem Bild zweier Boxer: der eine pendelt kontinuierlich die Schlägen des anderen aus, was ihn nach außen hin als souverän darstellt. Da aber die Druckzone beim Boxsport nicht weiter in die Körperzone gedrückt werden darf (einfacher ausgedrückt: der abgetauchte oder abgeduckte Körper darf nicht geschubst oder weggedrückt werden um das Gleichgewicht zu brechen), ist das Risiko, sein Gleichgewicht zu verlieren, eher gering. In einer Selbstverteidigungssituation muss davon ausgegangen werden, dass ein Angreifer alles unternimmt, um das Gleichgewicht des Gegners zu brechen.

Die Prämisse muss lauten: so wenig Risiko wie möglich bei höchstmöglicher Sicherheit.

Wer ohne wirklichen Zwang nachgibt, hat seine Position aufgegeben.

Die Weide beugt sich nur wenn der Wind sie zwingt.